Interozeption - Signale aus dem Inneren
- Christina
- 3. Juni
- 15 Min. Lesezeit
Flugmodus off
Oft ist es nur ein leises Rauschen im Hintergrund. Tief im Körperinneren, kaum wahrzunehmen. Eine volle Blase, ein leichtes Ziehen im Magen, das Hunger suggeriert, oder ein schnelleres Klopfen des Herzens, nachdem wir uns über etwas geärgert haben.
Diese leisen und subtilen Signale aus dem Körper an unseren Geist (body to mind) helfen uns, über das eigene Wohlbefinden Bescheid zu wissen. Ein vielschichtiges Netzwerk sendet uns Informationen aus dem Inneren – von unseren Organen, dem Gewebe und den Muskeln – über ein spezialisiertes Nervengeflecht direkt an unsere Schaltzentrale, das Gehirn, damit wir bei Bedarf darauf reagieren können.

Interozeption ist ein wichtiger – ja, lebenswichtiger Mechanismus.
Es ist ein Mechanismus, den wir alle kennen und der, wenn er gut funktioniert, wenn wir die Signale, die gesendet werden, bemerken und passend einschätzen, für Balance, Wohlbefinden und Gesundheit sorgt.
Bei vielen Dingen klappt die Interozeption ganz wunderbar. Wenn wir Hunger haben und der Magen leer ist, wird das Gefühl irgendwann so stark, dass wir reagieren müssen – es geht dann gar nicht mehr anders, denn ein richtig starkes Hungergefühl, lässt sich nicht so einfach ignoeroen. Die meisten unter uns können sich dann wohl kaum auf etwas anderes mehr konzentrieren und sorgen dafür, dass das Gefühl verschwindet – einfach indem sie etwas essen.
Aus dem Signal aus dem Körperinneren (mein Magen ist leer) entsteht ein Gefühl (ich habe Hunger), worauf wir mit angepasstem Verhalten (ich esse etwas) reagieren können.
Andere Signale sind nicht so laut wie das Hungergefühl und wir nehmen sie viel zu oft nicht oder erst viel zu spät wahr – auch wenn sie ebenso wichtig für unser Wohlbefinden und für unsere Gesundheit sind, wie die Nahrungs- und Energieaufnahme.
Gerade bei Empfindungen, die durch Stress verursacht werden – ganz egal, ob dieser körperlicher oder mentaler Natur ist – lassen wir die Interozeption oft nicht zu uns durchdringen. Wir stellen sie leise oder stumm. Ja legen den Fokus auf das, was im Außen passiert: die vielen ganz alltäglichen Dinge, To-dos, Anforderungen und Verantwortlichkeiten, oder auch die Belanglosigkeiten.
Cut – ganz „normaler Tag“
5:30 Uhr, der Wecker klingelt.
Es ist noch dunkel draußen und ich weiß nicht, wie oft ich die Snooze-Taste gedrückt habe, bis ich es endlich schaffe, aus dem Bett zu krabbeln. Heute ist mal wieder einer dieser Tage, an denen ich morgens schon fix und fertig bin – allein von der Aussicht auf das, was ich an diesem Tag zu tun habe.
Und das geht schon seit Wochen so. Ehrlich gesagt häng ich mit meinen To-do´s hinterher – aber so was von. Die Wäscheberge vom Wochenende, der Einkauf (Kühlschrank leer, die pubertierende Kinder sind Heuschrecken), ja von den dreckigen Fenstern, durch die die Frühlingssonne scheint, mal ganz zu schweigen. Ich meine also alle To-dos – die Lebens- und Alltags-To-dos und die aus dem Job sowieso.
Und für alle gibt es eine Liste, also in meinem Leben – so richtig schön zum Abhaken. Das mache ich nämlich gern. Abhaken, mein ich.
Eigentlich.
Haken setze ich gerade nämlich so gar nicht.
Auf der Arbeit streiche ich jeden Tag nur das Datum oben auf der Liste durch und schreibe das neue, das Aktuelle drüber. Und für den anderen Kram – tja – da gibt’s schon gar keine Liste mehr.
Meine Tage sind voll, ich habe zu tun – den ganzen Tag. Ständig gibt es etwas, das ich erledigen muss. Auf der Arbeit kommen jeden Tag neue Aufgaben dazu, dabei rutschen die alten irgendwie nach hinten, und nur die aller-, aller-, aber wirklich allerwichtigsten werden jetzt und heute abgearbeitet.
Und dann?
Dann ist die Zeit ratzfatz um.
Und in der Family wird nur noch gelöscht, damit kein Flächenbrand aus dem gar nicht mehr so kleinen Feuer wird. Essen machen ist wichtiger als Fensterputzen – Hausaufgaben mit den Kids ebenso. Und zwischendrin vibriert immer mal wieder das Handy in der Tasche, weil irgendwo irgendwas wichtig ist und von mir erledigt werden soll.
Ganz normaler Tag – in einem ganz normalen Leben also. Viel Input von Außen – von Innen eher weniger.
Handy laut – Interozeption im Flugmodus
Okay, okay, gut – war ein fiktiver und kein normaler Tag – wer um Himmels willen stellt sich um 5:30 den Wecker …
Aber wenn wir mal ehrlich zu uns selbst sind, gerade dann, wenn wir in der sogenannten Rushhour des Lebens stehen, wo alles gleichzeitig abläuft, dann ist dieser fiktive Tag vielleicht doch ein normaler – ja – Alltag.
Dann ist nicht unser Handy im Stummmodus – nein, das sendet ununterbrochen und zuverlässig Signale (die wir auch nur allzu gern empfangen).
Vielmehr befindet sich die Interozeption oft nicht nur im Stumm-, sondern gar im Flugmodus, sodass die Signale aus unserem Inneren nicht zu uns durchdringen können und wir dadurch wieder und wieder über körperliche und emotionale Grenzen hinausgehen.
Laufen wir zu lange in diesem Modus – einem Modus, in dem wir auf Reize reagieren, anstatt bewusste Entscheidungen zu treffen – und überhören die Signale aus dem Inneren immer und immer wieder, schaden wir uns und unserer Gesundheit.
Der 6.Sinn - EIN Mind-Body-Link
Okay – neues Setting: Ein ganz normaler Mittwoch. Es ist 18 Uhr. Yogastunde.

Stell dir vor, du liegst auf der Yogamatte:
Dein Körper ist ganz ruhig. Arme und Beine sind ausgestreckt. Deine Zehen fallen leicht nach außen. Deine Handrücken sind Richtung Himmel gedreht, und die Schultern erfahren Öffnung, Weite und Raum. Dein Atem fließt ruhig. Dein Körper ist vollkommen entspannt – und irgendwie auch leise. Von außen betrachtet.
Absolut.
In deinem Inneren aber herrscht Trubel. Ein Gedrängel. Ein Schieben und Schubsen. Ein Rauschen und Piepen. Wie Zahnräder, die sich – schlecht geölt – drehen, wobei eins ins andere greift.
Während du also in vollkommener Ruhe dort liegst, ist dein Körper in voller Aktion. Die Zellen deines Nervensystems senden unentwegt elektrische Signale ab.
Im Hirn, im Rückenmark und in den Nervenenden deiner Haut – dort, wo du den Kontakt zum glatten, kalten Boden spürst.
Dein Herz schlägt – ruhig, entspannt und gleichmäßig, absolut – aber deine Herzmuskelzellen arbeiten hart, verbrauchen Energie, um kontrahieren zu können. Dein Herz schlägt und du bist am Leben.
Deine Lunge tauscht in den Lungenbläschen verbrauchte Atemluft gegen frische aus und gibt den Sauerstoff an die Zellen im Blut ab. Du brauchst den Sauerstoff – er liefert Energie und ist lebensnotwendig. Ein Aussetzen der Atmung, eine Pause für deine Lunge? Keine gute Idee.
In jedem Augenblick sterben Zellen in deinem Körper ab, andere teilen sich und entstehen neu. Knochenzellen bilden sich und regenerieren dein Skelett.
All deine Organe senden biochemische Signale aus und empfangen sie – unentwegt und immer.
Wie gesagt: Während du entspannt auf deiner Matte liegst, ist ordentlich was los in deinem Körper.
Diese Vorgänge nehmen wir (zum Glück) nicht bewusst wahr – die meisten von ihnen sind eh viel zu subtil und fein, als dass wir sie je spüren könnten. Andere hingegen – wie die Intensität unseres Herzschlags oder eine erhöhte Anspannung in bestimmten Muskelgruppen – könnten wir spüren, hätten wir die Interozeption nicht im Flugmodus vergessen. Aber genau das übst du gerade, während du auf der Matte liegst und in deinen Körper hineinfühlst.
In die Hände.
Und mit jedem deiner zehn Finger stellst du nach und nach den Flugmodus aus und die Interozeption an.
Von NICE-TO-HAVE BIS ÜBERLEBENSWICHTIG
Per Definition beschreibt der Begriff Interozeption die Fähigkeit unseres Körpers, innere Zustände wahrzunehmen und zu interpretieren. Unser Gehirn erhält mittels Interozeption also einen ziemlich genauen Überblick darüber, wie es dem Körper geht und welche Bedürfnisse er hat – so komplett und rundum.
Dabei senden unser Gewebe und unsere Organe, Signale (in Form von Nervenimpulsen) aus dem Körper an das Gehirn, woraus unser Gehirn eben Gefühle entstehen lässt. Genauer gesagt gelangen die Informationen über die Nervenbahnen in den Thalamus, das „Tor zum Bewusstsein“. Hier werden alle Sinneseindrücke gesammelt (also auch die von außen) und in andere Hirnbereiche weiterleitet.
Bleiben wir mal auf der Yogamatte: Dein rechter Handrücken liegt auf dem kalten, glatten Holzboden, während du in die Tiefen von Shavasana eintauchst. Kühle auf der Haut. Ein Gefühl von Druck dort, wo die Haut den Boden berührt.
Körperempfindungen, die die Nervenzellen deiner Haut an dein Gehirn senden. Zuerst in den Thalamus und von dort weiter in die Insula, einen weiteren spezialisierten Bereich des Gehirns. Das kann – wie in diesem Fall – die Temperatur (kalter Boden) sein. Aber eben auch Hunger: Hier sendet der Magen (wie genau das funktioniert, erfährst du weiter unten) einen körperlichen Zustand – Magen leer, Nahrung verdaut – an dein Gehirn, und dein Gehirn macht daraus ein Gefühl: Hunger.
Interozeption umfasst damit also eine Bandbreite an Körperempfindungen – von lebensnotwendig (Hunger) bis nice-to-have (kühler Handrücken)!
GO DEEPER - Interozeption auf zelluläre Ebene

Analog zu dem, wie viele von uns mit der eigenen Interozeption umgehen (ich sag nur: Flugmodus), vernachlässigte man auch ziemlich lange in der Grundlagenforschung die Frage, wie Interozeption genau – also auf zellulärer und molekularer Ebene – funktioniert.
Für die äußeren Sinne, den Geruchssinn zum Beispiel, haben bahnbrechende Erkenntnisse dazu geführt, dass ziemlich genau bekannt ist, wie die äußeren Reize, zum Beispiel Gerüche (oder chemische Stoffe), über das neuronale System weitergeleitet und im Riechkolben und Gehirn verarbeitet werden. Und Leute, auch das ist sowas von spannend – wusstet ihr, dass der Riechnerv, auch 1. Hirnnerv genannt, eine direkte Verbindung zum Gehirn hat, ohne Zwischenschaltung, und damit praktisch ein Teil des Gehirns ist? Er hat einen direkten Draht in die Großhirnrinde und ist evolutionsgeschichtlich der erste Hirnnerv, der sich entwickelt hat. Gerüche sind daher für unsere stärksten und intensivsten Erinnerungen zuständig …
Aber zurück zum Thema.
Die Frage, wie genau Interozeption funktioniert – also die Verarbeitung innerer Signale auf zellulärer oder molekularer Ebene – war lange also nicht Gegenstand der Grundlagenforschung. Das hat sich geändert. Und wie immer liegt es daran, dass es nun einen Grund, ein gutes Argument gibt, warum Wissenschaftler*innen genauer hinschauen sollten.
Es hat sich herausgestellt, dass eine veränderte Fähigkeit zur Interozeption mit verschiedenen Krankheiten assoziiert ist. So gibt es Studien, die zeigen, dass zum Beispiel bei Angststörungen (z. B. Paulus & Stein, 2010), Magersucht (Anorexia nervosa) (Berner et al., 2018) oder Suchterkrankungen (z. B. Naqvi & Bechara, 2009) eine unausgeglichene oder veränderte Interozeption bei der Entstehung eben dieser Erkrankungen beteiligt ist. Die Erkenntnis also, dass ein detailliertes Wissen über Interozeption von Nutzen sein kann, hat in jüngster Zeit zu neuen und spannenden Erkenntnissen geführt.
Zum Beispiel, dass es verschiedene Signalwege gibt, die die Informationen aus dem Körper an unser Gehirn vermitteln.
Informationen und Reize, die potenziell gefährlich sind, werden über ein und denselben Weg geleitet: den Lamina-I-spinothalamic pathway – okay, Leute, müsst ihr euch nicht merken, klingt aber ganz fancy. Potenziell gefährlich kann die Temperatur sein – also nicht in der Yogastunde, aber in der Küche eben schon. Hier sind es Zellen, die Thermorezeptoren (Rezeptor = Andockstellen, die ein Signal von außen ins Zellinnere senden) auf ihrer Oberfläche tragen, die die Temperatur erkennen, d. h. sie verändern den Reiz, den sie in die Zelle senden, abhängig von der Temperatur. Ein anderes Beispiel sind die Nozirezeptoren, auch Schmerzrezeptoren genannt.
Dann gibt es den somatosensorischen Signalweg – der ist relativ komplex und eher dafür verantwortlich, wie wir mit unserer Umwelt interagieren und in ihr stattfinden (Propriozeption) – ich sag nur: Lage des Körpers im Raum – auch spannend, jedoch nicht ganz so wichtig für die Interozeption und nur der Vollständigkeit halber hier erwähnt.
Der dritte aber, der ist wichtig und eine nähere Betrachtung wert! Der viszerezozeptive Signalweg ist der Nervensystemweg, über den der Körper Informationen über die inneren Organe (Viszera) zum Gehirn sendet – also die Interozeption vermittelt.
Rückblick – normaler Tag
Ich hab morgens gefrühstückt, Toast mit Honig, dazu ein Cappuccino mit Hafermilch und direkt einen zweiten hinterher.
Also erstmal alles gut. Sehr gut für den Anfang.
Dann bin ich durch den Vormittag – naja, sagen wir mal … gerannt – also digital. Ein Meeting nach dem anderen, E-Mails beantworten, so parallel – zumindest die wichtigsten. Schnell noch den Kollegen dieses und jenes schicken und ach ja, Kunde XY wartet ja auf den Bericht. Bis auf einmal – schwupps – früher Nachmittag ist.
Dann. Die Kids. Klavier – geht nur mit dem Auto – Rückweg einkaufen – Hausaufgaben. Schwupps – früher Abend.
Ich sag nur: ein Honigtoast … Kaffee gab es zwischendrin auch nochmal – geht ja gut to go. Und ein bisschen Wasser – ansonsten nicht viel Verwertbares – also Nahrung.
Mein Magen ist also ziemlich leer. Eigentlich sollten die Mechanorezeptoren (spezialisierte Nervenzellen in der Muskelschicht) meines Magens das Signal: LEER über den Vagusnerv an mein Gehirn gesendet haben. Vielleicht haben sie das auch. Bestimmt sogar, denn mein Körper will ja überleben. Die Zellen in meinem Magen vermitteln also über den viszerezozeptiven Signalweg den Dehnungsgrad meines Magens an mein Gehirn, in den Thalamus. Wenn ich das Signal also wahrgenommen hätte, wäre aus dem Zustand „leerer Magen“ ein Gefühl geworden, nämlich HUUUNGER, und darauf hätte (ja, hätte, hätte, Fahrradkette) ich mit meinem angepassten Verhalten reagieren können: eine Pause machen und etwas essen.
Hab ich aber nicht.
Es war zu laut draußen.
Der Vagusnerv hat gesendet – vielleicht, vermutlich – ich hab nur vor lauter Leben echt nichts mitbekommen.
So läuft es also, wenn wir die interozeptiven Signale nicht mitbekommen. Dann gerät der Körper aus der Balance und wir verpassen es, gut für uns zu sorgen. Das mit dem Hunger war jetzt ja nur eine Geschichte – Signal „Magen leer“ verpassen passiert bei mir eher nicht, dafür kippt mein Kreislauf zu schnell und auch meine Stimmung. Das Hungergefühl ist dann übermächtig und ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren, außer darauf, dass ich Hunger habe.
Vermutlich hätte ich an so einem Tag was Schnelles (und Ungesundes) gegessen – vom Bäcker, viel Zucker für schnelle Energie, um bloß das ungute Gefühl loszuwerden.
Aber das Prinzip ist klar: Überhören wir die Signale aus dem Inneren, schalten die Interozeption stumm oder gar in den Flugmodus, bemerken wir nicht, dass der Körper aus dem Gleichgewicht gerät, und steuern dementsprechend auch nicht dagegen. Auf Dauer kippt damit unser ganzes System.
CARDIOCEPTION - Herzgefühl trifft vegetatives nervensystem
Die Mechanorezeptoren im Magen sind dabei nur ein Beispiel, wie interozeptive Wahrnehmung auf zellulärer Ebene funktioniert und wo der viszerezozeptive Signalweg seinen Anfang nimmt.
Auch in der Lunge, im Herz – ja, in allen Organen und Strukturen – finden sich Nervenzellen, die genau diese Funktion haben: Informationen über den Zustand der Organe an unser Gehirn zu senden, damit der Körper automatisch oder wir proaktiv reagieren können.

Besonders intensiv wird gerade an der kardialen Interozeption (Cardioception) geforscht – also an der Wahrnehmung unseres Herzens. Mittlerweile ist bekannt, dass ein dreiteiliges System erkennt, wie es um unseren Blutdruck, den Herzschlag und die Frequenz bestellt ist. Den Blutdruck zum Beispiel messen druckempfindliche Rezeptoren im Karotissinus und im Aortenbogen und senden die Information über den viszerezozeptiven Signalweg (den IX. und X. Hirnnerv) an das Gehirn. Im Hirn werden die Informationen verarbeitet und weitergeleitet. Bei Bedarf wird der Gefäßtonus und die Herzfrequenz angepasst. Die Weiterleitung erfolgt dabei über das vegetative Nervensystem: Kommt zum Beispiel die Info an „Blutdruck zu hoch“ (interozeptives Signal), folgt die Aktivierung des Parasympathikus – mit der Konsequenz, dass der Muskeltonus und die Herzfrequenz heruntergehen und der Blutdruck sinkt.
Auch wenn wir den Herzschlag und den Blutdruck wahrnehmen können, ist es nicht möglich, direkt mit einem angepassten Verhalten zu reagieren, indem wir auf den Herzschlag primär einwirken – proaktiv wie beim Hungergefühl ist hier auf den ersten Blick also echt schwierig.
Ein zweiter Blick aber lohnt allemal. Denn auf unser vegetatives Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus) können wir ganz wunderbar einwirken – über die Atmung zum Beispiel.
Mit Hilfe verschiedener Atemtechniken haben wir die Möglichkeit, eben doch auch auf einen zu schnellen Herzschlag einzuwirken und uns selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Regulieren wir unsere Atmung so, dass wir länger ausatmen als einatmen – z. B. bei der 4-7-8-Atmung –, schalten wir den Parasympathikus an und sorgen so dafür, dass sich die Herzfrequenz verlangsamt.
Über GEFÜHLE
Also, wir wissen nun, wo die Interozeption ihren Anfang nimmt und über welche Wege sie die Signale an das Gehirn sendet. Wir wissen auch, dass wir auf die Signale direkt (Magen leer → Essen) oder indirekt (Herz schlägt schnell → Atmung anpassen) mit einem angepassten Verhalten reagieren können.
Aber wir haben noch keinen Blick auf die Frage geworfen, wie aus dem Signal im Gehirn ein Gefühl wird. Und das, Leute, ist echt eine Herausforderung …
Also: Was Gefühle sind und wie entstehen sie? Nicht nur eine neurologische, sondern auch eine philosophisch anmutende Frage.
Ich versuche es mal auf der wissenschaftlichen Ebene (und hebe mir die philosophische für später auf).

Eine Studie in der renommierten Fachzeitschrift Nature aus dem Jahr 2022 zeigt, dass der erste Schritt der Informationsverarbeitung im Hirnstamm stattfindet. Hier liegt eine Art innere Karte der Organe. Stuft unser Gehirn die Information als wichtig ein, wird sie an höhere Gehirnregionen weitergeleitet.
Folgende Bereiche solltet ihr euch merken:
Insula
verarbeitet den Zustand der inneren Organe – Hunger, Durst, Herzklopfen – und bildet körperlich assoziierte Gefühle, z. B. Ekel, Schmerz, Angst.
Amygdala
anteriore cinguläre Cortex (ACC)
Aber nicht alle inneren Signale werden tatsächlich auch weiterverarbeitet – das wäre ehrlich gesagt auch Wahnsinn. All die biochemischen Prozesse, die ständig in uns stattfinden, all die Informationen über den Zustand unserer Organe – unser Gehirn entscheidet – meist unbewusst oder basierend auf Erinnerungen und der Einschätzung unserer aktuellen Situation –, was wichtig ist und was in einem Gefühl resultiert, sodass wir es bemerken können.
Gefühle lassen sich bekanntlich nicht einfach erklären..
Kann man Interozeption lernen?
Nicht alle Menschen nehmen die Signale aus dem Körperinneren gleich intensiv und deutlich wahr. Diese Unterschiede nennt man interozeptive Akkuranz oder Wahrnehmungsgenauigkeit.
Testen kann man sie z. B., indem man sich auf den Herzschlag konzentriert und ihn zählt, ohne dabei den Puls zu messen. Je genauer der gezählte Wert mit dem gemessenen Wert korreliert, umso besser ist man zur Interozeption in der Lage. Es gibt Menschen, die können das extrem gut – ohne es je geübt zu haben. Und dann gibt es auch Menschen, die spüren ihr Inneres nicht so genau. Die zweite Gruppe läuft Gefahr, Signale – auch die wichtigen – zu überhören. Das führt langfristig dazu, dass Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden und Grenzen nicht eingehalten werden können.
Aber interozeptive Wahrnehmung lässt sich schulen: Atemübungen zum Beispiel oder die Körperreise (Body Scan) sind geeignete Methoden, die uns helfen, den Körper besser wahrzunehmen, um dann auch im Alltag und in stressigen Situationen mit einem Ohr bei uns zu bleiben und aufmerksam und achtsam zu registrieren, was nötig ist, um die Balance zu halten.
Interozeption und aNGSTstörunGEN
Cut. Neue Szene.
Aus dem normalen Tag ist „normaler“ Alltag geworden.

In meinem fiktiven Leben renne ich durch To-do-Listen, ersetze nur das Datum und funktioniere. Die ganze Zeit.
Tag für Tag.
Bis jetzt.
Jetzt liege ich auf der Couch. In meinem Zuhause.
Sieht man mich da so liegen, scheint alles okay zu sein. Die Sonne scheint durchs Fenster, es ist ein freundlicher Tag. Im Zimmer ist es hell und angenehm. Mittagspäuschen.
Scheinbar ist alles gut.
Scheinbar.
Aber mein Herz schlägt schnell, super schnell. Und das gibt mir das Gefühl gibt, dass eben doch nicht alles gut ist, dass Gefahr droht und ich vielleicht lieber weglaufen sollte – oder doch kämpfen?
Ich liege auf der Couch und überlege – fight or flight … jetzt!, sagt mein Herzschlag. Aber wogegen eigentlich? Ich will doch nur kurz Pause machen und jetzt schreien mich die Signale aus meinem Inneren regelrecht an – ein lautes Dröhnen, auf voller Lautstärke.
Und aus dem Signal ist schon lange ein Gefühl geworden.
In der Amygdala.
Angst.
Aber wie sieht das passende Verhalten aus? Wo ist denn der Säbelzahntiger, der mich bedroht?
Es gibt sie also auch hier – die andere Seite der Medaille. Menschen, die in der Lage sind, interozeptive Signale sehr genau zu spüren. Was auf den ersten Blick erstrebendswert wirkt, kann sich auf den zweiten Blick als problematisch erweisen – nämlich dann, wenn die Signale stark, ja übermächtig werden und das System aus dem Gleichgewicht geraten ist, weil das Nervensystem (dauerhaft) überlastet ist.
Dann, wenn aus kurzen stressigen Phasen ein chronisch gestresster und überlasteter Alltag wird – bis das System irgendwann kippt und der Körper aus dem ständigen Kampfmodus nicht mehr herauskommt. Menschen, die über eine sehr präzise interozeptive Wahrnehmung verfügen, können in die Situation geraten, die Signale über- oder fehlzuinterpretieren. Ein dauerhaft erhöhter Blutdruck, ein anhaltendes Herzklopfen, ein Puls, der auch in Ruhephasen rast – all das kann Angst auslösen.
Verstetigt sich dieser Kreislauf, kann das dazu führen, dass die Signale katastrophisierend interpretiert werden. Ein Teufelskreis, der mitunter in einer Angststörung oder Panikstörung enden kann.
In der Behandlung von Angstpatient*innen wird dieser Zusammenhang mittlerweile sogar therapeutisch genutzt. Studien haben gezeigt, dass eine sogenannte interozeptive Exposition – also das bewusste Auslösen von Herzklopfen in einem sicheren und positiven Umfeld, z. B. durch Sport – dazu führen kann, dass die Kopplung „Herzklopfen = Angst“ aufgelöst wird und damit der Teufelskreis durchbrochen ist. Der Körper lernt, dass ein starker Herzschlag nicht unbedingt etwas schlimmes ist und das nach der Aktivität eine Phase der Erholung folgt – aus dem Alarmzustand zurück in die Ruhe.
Fazit
Interozeption ist ein spannendes und extrem großes Forschungsfeld. Umso tiefer ich in die Thematik einsteige, umso faszinierender finde ich sie – und umso mehr Türen öffnen sich in eine faszinierende Welt. Und das spiegelt sich in der aktuellen Forschung zu Interozeption auch wider. Sie streift so viele Disziplinen: die Neurologie, die Psychologie, die Biochemie und die Grundlagenforschung – und, ehrlich gesagt, ja auch die Philosophie, wenn wir ans Eingemachte der Gefühle gehen.
Und wie so oft kommt es auch bei diesem Thema wieder einmal auf die Balance an – auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen stumm und dröhnend laut.
Es ist wichtig, dass wir in uns hineinhorchen, dass wir lernen, die Signale aus dem Inneren unseres Körpers wahrzunehmen – daran gibt es erstmal überhaupt nichts Falsches (solange wir nicht ständig um uns kreisen und die Welt draußen ganz vergessen). Und es ist ebenso wichtig, dass wir die Gefühle, die daraus entstehen, ruhig und klar interpretieren und unser Verhalten entsprechend anpassen – manchmal vielleicht sogar unser ganzes Leben.
Ein zu intensives, zu genaues Hinhören jedoch und eine Überinterpretation (!) hingegen können uns ebenso aus der Balance bringen und dazu führen, dass wir die Signale missinterpretieren und um uns selbst kreisen – aus dem ein Teufelskreis werden kann.
Dabei hört das Erkunden und Lernen niemals auf - denn wer einmal hingehört hat und sich mit seinem 6. Sinn auseinander gesetzt hat, wird bemerken, dass es eine Tür in eine bemerkenswerte Welt aufmacht. In eine Welt in der wir mehr über uns erfahren als wir es jemals für möglich hielten.
sIDEFACTS
… ES IST EINFACH ZU SPANNEND…
Wenn du also auch nicht aufhören kannst,
hier gehts weiter…
Interozeption & Intuition
Forschende haben gezeigt, dass Menschen die ihre Körperempfindungen intensiver wahrnehmen, sich besser Entscheiden können und diese Entscheidungen dann als geeignet empfinden.
Interozeption & Anorexia nervosa
Studien zeigen, dass Menschen die an Magersucht (Anorexia nervosa) leiden, eine reduziertere Fähigkeit zur Interozeption haben, im Vergleich zu einer Kontroll-Gruppe. Weitere Studien zeigen darüberhinaus, dass eine Therapie mit Methoden die die Interozeption schulen, erfolgsversprechenden sind.
Interozeption & Zwillinge
Zwillingsstudien zeigen, dass die Interozeption genetische Anteile hat. Außerdem beeinflussen die Lebensumstände und Bindungserfahrungen die Fähigkeit zur Interozeption.
Interozeption & Empathie
Menschen die in eine hohe Empathiefähigkeit besitzen, haben eine ausgeprägte interozeptive Wahrnehmung
Die Frage nach der Henne und dem Ei
Es ist eine spannende Frage, was zuerst da ist: die Wahrnehmung, also die Interozeption (mein Herz schlägt schnell) oder das passende Gefühl (ich bin aufgeregt oder in Gefahr). Forschende beschäftigen sich schon lange mit der Frage und moderne Theorie zeigen, dass aus der Wahrnehmung der Körperprozesse im zweiten Schritt Gefühle entstehen - Interozepotion ist damit die Voraussetzung für emotionales Empfinden. Allerdings ist das nur eine mögliche (wenn auch für mich sehr logische) Theorie… es bleibt also spannend.
Quellen & ausgewählte studien
Interozeption & Angststörungen
Paulus, M.P., Stein, M.B. Interoception in anxiety and depression. Brain Struct Funct 214, 451–463 (2010). https://doi.org/10.1007/s00429-010-0258-9
Interozeption & Magersucht
Berner LA, Simmons AN, Wierenga CE, et al. Altered interoceptive activation before, during, and after aversive breathing load in women remitted from anorexia nervosa. Psychological Medicine. 2018;48(1):142-154. doi:10.1017/S0033291717001635
Interozeption & Suchterkrankungen
Naqvi, Nasir H. et al. The hidden island of addiction: The insula. Trends in Neurosciences, Volume 32, Issue 1, 56 - 67
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